| Liebes Reisetagebuch |
|
Dienstag, 6. Oktober 2009
Der Erde so nah
ontourage, 14:35h
Nach Shanghai beginnt ein besonderer Teil meiner Reise - nach Huang Shan. Das habe ich auch als Geschichte aufgeschrieben, also hier ist sie:
Ein Mann kam zu einem berühmten Maler, um ihn um das Bild einer Katze zu bitten. Er befürchtete, dass der Maler seine Bitte ablehnen würde, weil dieser sehr berühmt war und der Mann nur das Geld für ein kleines Bild einer Katze hatte. Aber der Maler sagte nur: Ist gut, komm in ein paar Tagen wieder. Nach einer Woche ging er wieder zum Maler, aber dieser sagte ihm: Das Bild ist noch nicht fertig. Komm ein andermal wieder. Gut, dachte der Mann, der Maler hat sicher viel zu tun, und größere Arbeiten haben sicher Vorrang. Nachdem ein Monat verstrichen war, versuchte er es erneut. Doch das Bild war noch nicht fertig. Der Mann war enttäuscht, er hatte sich sehr auf das Bild gefreut, aber er beschloss, sich in Geduld zu üben. Nach weiteren zwei Monaten ging der Mann wieder zum Maler. Dieser sagte ihm abermals: Das Bild ist noch nicht fertig, komm später wieder. Es wurde Frühling. Es wurde Sommer, Herbst und Winter, und wieder Frühling, aber das Bild wurde nicht fertig, so oft der Mann auch danach fragte. Schließlich, nach zwei Jahren, als der Mann die Hoffnung schon aufgegeben hatte, kam er zufällig wieder am Haus des Malers vorbei. Da winkte der Maler ihn herein und sagte: Komm. Dein Bild ist fertig. Die Katze war wunderschön. Sie schien sich zugleich zu räkeln und zum Sprung anzusetzen, zu laufen und in sich zu ruhen. Der Mann meinte fast, ihren Atem auf seiner Haut zu spüren und ihr Schnurren zu hören. Er hatte noch nie ein so schönes Bild gesehen. Aber es waren nur wenige Pinselstriche, und plötzlich wurde er zornig und fragte: Warum hat das so lange gedauert? Warum musste ich zwei Jahre warten? Da sagte der Maler: Was meinst du, was ich die ganze Zeit gemacht habe? Und er öffnete den Schrank. Heraus fielen tausende und abertausende Zeichnungen von Katzen. -Geschichte aus China Natürlich kennst du das Motiv. Du hast es schon tausendmal gesehen, auf Postkarten, als Poster oder als dreidimensionales Wasserbecken mit Rauchschwaden in irgendwelchen Kitschläden, als Gemälde im Chinarestaurant: Die massive Gebirgslandschaft mit grauen, verschnörkelt gezeichneten Felsen, mit wild wuchernden Kiefern und chinesischen Schriftzeichen am Rande. Der Huang Shan gilt als Vorstufe des Himmels, und als Ideal eines jeden chinesischen Malers, an dem er sich jahrelang abarbeitet. Es gibt keine Schönheit außer der absoluten. Der Weg dorthin ist steinig und hart. Und das nicht im philosophischen Sinne. Dreitausendfünfhundertachtundvierzig verdammte Stufen. In all den elegischen Schilderungen von einer Wanderung in den Bergen kommt immer nur der tolle Ausblick vor, das gottgleiche Gefühl, von allem weit weg und losgelöst zu sein, das Selbst als spartanisch-romantischer Eremit mit Wanderstab oder ein pragmatischer Bergsteiger mit “Yes, we can”- Einstellung. Um mich herum sehe ich nur schwitzende rote Gesichter mit verzweifeltem Ausdruck, genau wie ich Normalsterbliche, die sich halb aufrecht, halb kriechend den steilen Weg raufkämpfen. Wer gibt zuerst auf, der Geist oder der Körper? Meine Lungen, mein Herz, meine Knie, meine Beine, die ich wie zwei Klumpen Lehm hinter mir herziehe, statt dass sie mich auf den Gipfel tragen? Zurück zur Natur, angeblich ist der Mensch ja aus Lehm gemacht, und so fühlt es sich auch an. Zwischendurch erhaschen wir durch Gebäum und Gestrüpp einen Sehnsuchtsblick, dann fallen wir wieder in unsere Körper zurück, zur Zeit alles andere als göttliches Ebenbild oder Anmut der Natur. Was ist das erste, was wir tun, wenn wir den Himmel erreichen? Suchen wir uns ein Wölkchen zum Ausruhen? Oder wandern wir umher und machen uns mit der Umgebung vertraut? Wenn wir ehrlich sind – für gewohnlich, wenn wir irgendwo neu sind, wo es angeblich schön sein soll, ist es immer dasselbe. „Das habe ich da und da schon besser gesehen“ – „Auf den Fotos sieht das aber schöner aus“ – „Ich hol mir lieber eine Postkarte davon, darauf ist wenigstens gutes Wetter“. Aber auf dem Huang Shan stehen wir stumm und ungläubig vor Staunen. Dieser verdammte Berg ist einfach dagegen gefeit. Die Keuchenden vergessen nach Luft zu ringen, die schnatternden Gänse, die tatsächlich noch den Atem für Geplänkel hatten, sind still, alle Augen, die eben noch nichts anderes als die Erde unter den Füßen vorbeiziehen sahen, blicken in die Ferne. Du fragst dich jetzt sicher, und sahen was? Am liebsten würde ich sagen, Komm ein andermal wieder, meine Worte sind noch nicht fertig, aber gut, vielleicht kann ich dir ein Märchen mit einem Märchen erklären. Die Wolken zogen über die Landschaften hinweg. Sie waren sehr müde von der langen Reise. Der Wind zerrte an ihnen und riss sie immer wieder auseinander, die Sonne brannte schmerzhafte Löcher in sie hinein. Immer wieder bäumten sie sich dagegen, türmten sich aufeinander, um mit geballter Kraft den Elementen zu trotzen,aber sie spürten, dass ihre Kräfte langsam zur Neige gingen. Da sahen sie unter sich ein wunderschönes Fleckchen Erde, weite grüne Wiesen, golden leuchtende Felder, hohe Bäume und schattige Sträucher. Obwohl sie schon weit gereist waren, hatten sie so etwas Schönes noch nie gesehen. Sie waren so verzaubert, dass sie hinunterkamen, um die Landschaft aus der Nähe zu betrachten. Wenn sie doch nur bleiben könnten! Wenn ihre Wanderschaft endlich ein Ende hätte! Wenn dieses Paradies sie doch nur aufnehmen würde! Und sie schmiegten sich an die liebliche Erde und gaben ihr einen Kuss. Die Erde, die erst etwas ängstlich das Herannahen der Wolken beobachtet hatte, erschauerte über deren makellose, zarte Schönheit, und in der Überraschung des Kusses umfing sie die Wolken stürmisch. Da wurden die Wolken zu Stein. Sie hatten immer noch die unvergleichliche, leichte Linienführung des Himmels, ja, aber in der Umarmung wurden sie zu festem, vollkommen glatten Fels, und hier und da entsprossen unerwartet Kiefern wie eine Kinderschar. An keinem Ort der Welt sind Himmel und Erde sich so nah. So nah, dass man sie nicht mehr unterscheiden kann. Ja aber, wirst du jetzt sagen. Wir sind schon zu erfahren und zu weise, um noch an Märchen zu glauben. “Ce n’est pas une pipe”, das ist keine Pfeife, schrieb der Maler Magritte unter das Bild einer Pfeife. Recht hat er. Aber was passiert mit uns, wenn wir nur das Bild kennen und plötzlich der Wirklichkeit gegenüber stehen? Wir glauben es nicht. Einzelne Punkte auf dem Gipfel tragen passende Namen dazu, zum Beispiel “Fairy Bridge” oder “Beginning to believe Peak”. Sehen heißt glauben, aber oben angekommen, wird es schnell dunkel. In der Herberge ruhen sich alle von den Strapazen aus, im Männerzimmer wird geraucht und gegessen, die Frauen waschen die Last des Tages ab, in der Einöde herrscht noch Zucht und Ordnung, Männlein und Weiblein getrennt. Die Chinesen sind oft höflich und leidensfähig bis zur Schmerzgrenze. Das Zimmer kann übel sein, die Toilette fies, Schimmel an der Decke, Dreck auf dem Boden, aus der Matratze können die Federn springen – damit kann man sich noch arrangieren. Aber wehe, es gibt keinen Wasserkocher und keinen Fernseher! Mao hatte allen noch „eine Schüssel Reis am Tag“ versprochen, aber eigentlich hätte das „heißes Wasser“ und „Fernsehgerät“ sein müssen. Und so sitzen die Damen erschöpft-fröhlich in unserer kleinen Zehner-Bettstatt, schlürfen frisch aufgekochten Tee und Nudelsuppe und verpassen auch 1800 Meter über dem Meeresspiegel nicht eine Folge ihrer Lieblingssoap. Die einzige andere Ausländerin, eine Finnin, und ich verstehen kein Wort, aber die Handlung ist klar und macht sofort süchtig: Mann hat Streit mit Frau, dritter Mann, ein Bekannter, kommt vorbei und will Frau verteidigen, schubst den anderen Mann, der fällt auf die Straße, Auto kommt und überfährt ihn, Bekannter wird abgeführt und landet im Knast. Frau erzählt es älterer Frau – anscheinend Mutter – die bricht zusammen, will nichts mehr essen – Schwester und deren Mann bringen Frau zur Polizei, großes Drama vor dem Präsidium, als Sohn in Handschellen vorbeigeführt wird, nach seiner Mutter ruft und sich losreissen will, Mutter bricht wieder zusammen, Verwandte drehen durch und so weiter... Direkt danach wird das Licht ausgemacht, Zapfenstreich, denn man will ja morgen noch zum Sonnenaufgang aus den Federn. Im Halbdunkel des Schlafes und des Morgens tasten wir uns zum Aussichtspunkt und hocken dort wie die Hühner auf der Stange. Worte, Tee und Proviant werden gewechselt, Lachen über verschlafene Neuankömmlinge, die noch ein freies Plätzchen in der Menge suchen, aneinandergekuschelt in der Kälte des Berges. Aber Huang Shan will heute nicht. Gestern strahlender Sonnenschein, heute hüllt er sich in tiefen Nebel. Es gibt keinen Sonnenaufgang, so als ob er unseren Unglauben geahnt hätte, enthüllt und verbirgt er sich immer wieder im Wolkenatem, ganz stolze Diva. Der Abstieg beginnt. In bebendem Gestein wagen wir uns langsam hinab, ziehen langsam einen Hauch Himmel hinter uns her. Aber was sind schon ein paar Stufen im Vergleich gegen die täglich zehrende Unmöglichkeit, die Schönheit dieses Ortes einzufangen? Unten werden wir erzählen, wir hätten den Himmel gesehen. Aber wird man uns glauben? ... comment |
Online seit 5960 Tagen
Letzte Aktualisierung: 2009.11.16, 04:54 status
Menu
Suche
Kalender
Letzte Aktualisierungen
Hot stuff, baby, tonight!
Nach der Ankunft widme ich mich erstmal hausfraulichen... by ontourage (2009.11.16, 04:54) A Sailor's Life
Oben wird gleich das schiffsinterne Spielcasino eroeffnet,... by ontourage (2009.11.16, 04:39) Sehen verboten!
Am vierten Tag ist die verbotene Stadt waehrend der... by ontourage (2009.10.17, 15:45) If your life is a river...
Alles ist wahr. Ich sitze also in einem Bus, der mich... by ontourage (2009.10.17, 15:42) Zwischenstationen
Jede Reise hat ihre Ziele. Aber auf dem Weg zu den... by ontourage (2009.10.12, 17:54) |
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||